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Von Grindhouse bis Arthouse...
Besprechungen übersehener, unterbewerteter oder obskurer Werke der Filmgeschichte!

Sonntag, 2. Juni 2013

Was unter die Haut geht

The Singing Detective
UK 1986
R: Jon Amiel

Worum geht's?: Philip Marlow (Michael Gambon) liegt mit einer schweren Haut- und Gelenkerkrankung in einem britischen Krankenhaus.
Überzogen von eitriger Schuppenflechte und mit verkrampften Gelenken ans Bett gefesselt, ist der erfolglose Schriftsteller chandleresker Pulpnovellen unfähig zu schreiben, sodass er sich Szenen aus seinem einzigen noch im Druck befindlichen Roman The Singing Detective in seinen Gedanken vorstellt, welche sich im Fieberwahn immermehr mit Fragmenten seiner tristen Kindheit und seiner verkorksten Ehe zu einem teilweisen surrealen Stream of Consciousness verbinden.
Arztvisiten werden so zu schrillen Musicaleinlagen und seine Exfrau Nicola (Janet Suzman) plant scheinbar mit Marlows Nemesis Mark Binney (Patrick Malahide), den abgebrannten Autoren um die Rechte an einem Drehbuch zu bringen.
Dann sind da noch zwei finstere Ganoven (Ron Cook und George Rossi) aus Marlows Roman und eine unheimliche Vogelscheuche aus seinen Kindheitserinnerungen, welche scheinbar auch in der Realität des Krankenhaustrakts nach seinem Leben trachten.
Kann vielleicht Dr. Gibbon (Bill Patorson), der sarkastische Psychiater des Krankenhauses, Marlows Seelenheil wieder herstellen und dadurch die grausame Krankheit stoppen?
Oder werden die Schrecken aus Fiktion und Vergangenheit, den immer paranoider werdenden Marlow letztendlich ganz um den Verstand bringen, noch bevor der singende Detektiv seinen schwersten Fall lösen kann?


Wie fand ich's?: Psoriasisarthritis heißt die schreckliche Form von Gelenkentzündung, an der nicht nur die Hauptfigur Philip Marlow in The Singing Detective leidet, sondern auch Dennis Potter (*1935; 1994), seines Zeichens Drehbuchautor dieser sechsteiligen TV-Miniserie, die größte Zeit seines Lebens litt.
Potters Werk war für seine autobiografischen Bezüge bekannt, obwohl er diese meist in der Öffentlichkeit abstritt oder herunterspielte. Potter, der aufgrund seiner ihn entstellenden Krankheit und der Erfahrung sexuellen Missbrauchs durch einen Verwandten in seiner Kindheit, ein gestörtes Verhältnis zur eigenen Sexualität hatte, übertrug dieses auch in seine Arbeiten für die sonst ja eher konservative BBC, welche ebenso oft in Richtung Zensurschere sah, sich später aber durch gute Kritiken und Einschaltquoten meist bestätigt sah.
Den größten Aufruhr um The Singing Detetective verursachte die Szene, in der der junge Philip (Lyndon Davies) seine Mutter (Alison Steadman) beim Sex mit einem Bekannten (Patrick Malahide) im Wald beobachtet. Nicht nur nahm man Anstoß an Malahides nacktem Hintern und der freizügigen Darstellung des Geschlechtsverkehrs in immerhin konservativer Missionarsstellung, man entrüstete sich besonders darüber, dass ein Minderjähriger scheinbar unmittelbarer Zeuge dieses Aktes geworden war. Zwar konnte man den Zensor der BBC davon überzeugen, dass man die Aufnahmen des Kinderdarstellers erst nachträglich im Schnitt eingefügt hatte und dieser in der Szene lediglich auf Anweisungen des Regisseurs Jon Amiel reagierte, doch war der Aufschrei der prüden britischen Presse über die Ungeheuerlichkeit merklich zu vernehmen.
Dabei ist The Singing Detective ist ein wundervoll stimmiges Amalgam aus zahlreichen Elementen klassischer Genres, als da wären Motive aus Musical, ätzender Satire, des Horrorfilms und britischer Sozialdramen; so erinnern die Szenen aus Marlows Kindheit zum Ende des Krieges an die Milieustudien des Briten Ken Loach, wohingegen der Detektivplot mit seinen Monologen aus dem Off sich ganz klar bei der Schwarzen Serie bedient.
Bei aller, mitunter surrealer, Bilderflut ist Potters Werk aber stets eines: eine grundehrliche Selbstanalyse der eigenen Befindlichkeiten. Potter exorziert in The Singing Detective seine eigenen Dämonen und scheut trotz aller Dementi offenkundig kaum davor zurück seine Zwänge und Obsessionen einem Fernsehpublikum recht offen darzulegen. Die Bürde seiner eigenen Krankheit (deren in Realität noch weitaus blutigeren Verlaufsformen uns Potter gütigerweise erspart) und alle damit einhergehenden Strapazen und Versagungen (vor allem sexueller Natur) arbeitet er mit gesteigertem Blick auf Psychosomatik und emotionale Ursachen vor den Augen seiner Zuschauer in den sechs, jeweils etwa siebzig Minuten langen, Episoden der Mini-Serie eigentherapeutisch auf und schont dabei weder den Betrachter noch sich selbst.
Michal Gambon, der einem jungen Publikum wohl zunächst als Schulleiter Albus Dumbledore aus den letzten sechs Harry-Potter-Filmen bekannt sein wird (er hatte die Rolle des plötzlich nach den Dreharbeiten zum zweiten Teil verstorbenen Richard Harris übernommen), verbrachte bis zu sechs Stunden in der Maske, um ihn das Aussehen eines schwer Hautkranken zu verleihen; dabei war er eigentlich für die Rolle nur zweite Wahl, die Produktion wollte ursprünglich seinen Kollegen Nicol Williamson für den Part. Wer jedoch die Serie gesehen hat, muss Gambon als Idealbesetzung ansehen, schafft er es doch der gebrochenen Figur des Philip Marlow ein ebenso bitteres, zynisches, wie sympathisches Gesicht zu verleihen.
Wer also lediglich einen surreal angehauchten, fernsehtauglichen Thriller erwartet, ist hier vielleicht an der falschen Stelle, wer jedoch einen Blick in (auch die eigenen) menschliche Abgründe tätigen möchte ist wohl goldrichtig.
The Singing Detective wurde im Jahr 2000 vom British Film Institute auf Platz 20 der hundert Besten britischen Fernsehserien gewählt (Platz 1 belegte die Kultcomedy Fawlty Towers, Platz 3 der Sci-fi-Dauerbrenner Doctor Who).


Fazit: Großartiges Fernsehen von der Insel. Weitab vom TV-Mainstream wird hier gezeigt, wozu auch Fernsehen in der Lage ist: Unterhaltung die zum Denken anregt und den eigenen Horizont erweitert!

Punktewertung: 9,25 von 10 Punkten