Egal ob Exploitation, Gialli, Horror oder Sci-Fi...
Von Grindhouse bis Arthouse...
Besprechungen übersehener, unterbewerteter oder obskurer Werke der Filmgeschichte!

Mittwoch, 24. Februar 2016

Lass den Finger ruhig in der Wunde

Sátántangó (Satanstango)
H/CH/BRD 1994
R.: Béla Tarr

Worum geht's?: Irgendwo in Ungarn, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.
Der benachbarte Kirchturm ist schonlange nicht mehr als eine überwucherte Ruine und trotzdem kündet Glockenläuten von der baldigen Ankunft des tot geglaubten Irimiás (Mihály Vig).
Die heruntergekommene Kolchose liegt aufgeweicht durch den ständigen Regen, in tiefem Matsch begraben im Halbschlaf; ihre Bewohner wirken wie die Gespenster eines längst vor die Hunde gegangenen Proletariats.
Einige von ihnen planen, mit dem Geld ihrer Genossen das Weite zusuchen, um dort neu anzufangen, andere, wie der fettleibige Doktor (Peter Berling), ein alkoholkranker, misanthropischer Diabetiker, verlassen kaum ihre Häuser und gehen sinnentleerten Ritualen nach.
Zusammen mit ihrem Bruder hat die kleine Estike (Erika Bók) zuvor noch einige Münzen auf einem Feld vergraben, um daraus einen vermeintlichen Geldbaum zu züchten - vom Bruder verraten, lässt sie nun ihren Zorn an ihrer Katze aus, bevor sie erst diese, dann sich selbst mit Rattengift umbringt.
Die Gunst der Stunde nutzend, zieht der charismatische Irimiás schnell die Gunst der meisten Dörfler auf seine Seite, doch hat dieser von Moral und Sünde sprechende Messias erst kurz zuvor noch in der Großstadt einen geheimen Plan mit einem Staatsbeamten über das Schicksal der Dorfleute geschmiedet.

***

Wie fand ich's?: Beinah sieben Stunden benötigt Regisseur Béla Tarr, bis er mit seinem Publikum fertig ist. Eine cineastische Tour de Force, die inhaltlich und handwerklich den Zuschauer in einen Bann versetzt, ihn derweil bei der Gurgel greift und nach Ansicht verstört in seine Sitzgelegenheit schleudert.
Wie eine tonnenschwere Dampfwalze begraben die Bilder das Publikum beinah in Zeitlupe. Tarr gibt ihm jede erdenkliche Zeit sich an seinen wohlgewählten Bildern sattzusehen, dauern doch seine Einstellungen hier schon einmal ganze, unglaubliche elf Minuten.
So auch gleich die erste Aufnahme des schlammigen Innenhofs der Dorfgemeinde, auf dem eine Herde Kühe frei herumläuft, um schließlich in alle Richtungen aus dem Bild zu entschwinden - eine Vorwegnahme des Endes des Films, wie manche Rezensenten meinen.
An Symbolen spart Tarr freilich nicht, besonders offensichtlich ist dies bei der messiashaften Figur des vermeintlichen Verräters Irimiás, der wenn er sich zwischen seine beiden Gefolgsleute zum Schlafen legt, auch gern eine angedeutete Kreuzigungspose annimmt und so an Jesus zwischen den beiden neben ihm gekreuzigten Schächern, Dismas und Gestas, erinnert.
Überhaupt ist eben jener Irimiás eine der vielleicht interessantesten, weil rätselhaftesten Figuren, des Films, ja, wenn nicht gar des ganzen europäischen Kinos der letzten Jahrzehnte. Ob er nun tatsächlich ein manipulativer Betrüger ist, der die Gutgläubigkeit seiner früheren Mitbewohner ausnutzt, ja, vielleicht sogar deren Ermordung durch Sprengstoff plant, ist am Ende des Films ungewiss. Gewiss ist allerdings, dass er die Dörfler, die an seinen Plan, seine Vision, glauben, aus dem heruntergekommenen Dorf herausbringt und sie in der Stadt unterbringt.
Irimiás ist also tatsächlich eine Figur, an die man glauben kann bzw. muss, oder in der man direkt den listigen Verführer erkennen möchte. Wenn er plötzlich an der Stelle des Selbstmordes eines kleinen Mädchens vor einem sonderbaren Nebel auf die Knie fällt, kann der Zuschauer an einen (spontanen) Trick oder eine spirituelle Erfahrung (Vision?) glauben.
So schafft es doch dieser siebenstündige Koloss von einem Film, mich den seit Jahrzehnten eingeschworenen Agnostiker, hier Fragen nach Glauben und Urvertrauen zu stellen.
Ist Sátántangó also eine kaum verschleierte Religionskritik, eine Warnung vor falschen Heilsbringern oder eine Bestandsaufnahme der Befindlichkeiten auf dem ungarischen Lande nach dem Scheitern des Systems (dass man hier den Kommunismus als gescheitert ansieht, ist zumindest unfraglich)? Die Lösung liegt vermutlich irgendwo in der Schnittmenge aller Möglichkeiten, und wie jeder Kenner fernöstlicher Meiditationsarten weiß, ist eh der Weg das Ziel.
Auf jeden Fall bietet Béla Tarrs siebenstündiges Monumentalwerk eine einzigartige Seherfahrung, bei welcher der Zuschauer in einen paralysierenden Trance gebracht wird und eine seltsame Form von grauem Honig über den Sehnerv Einlass ins Hirn findet.
Langsame, traurige Bilder von Verfall und Niedergang künden von der conditio humana und wirken lange nach. Man sei hiermit also gleichermaßen gewarnt wie interessiert.


Fazit: Mehr Grau findet man kaum - Béla Tarr inszeniert den Untergang (und den Neubeginn?) einer ungarischen Dorfgemeinschaft in tonnenschweren Bildern.



Punktewertung: Ein Meisterwerk - Höchstnote!

Donnerstag, 11. Februar 2016

Ausdrücklich fraglich?!

Interrabang
I 1969
R.: Giuliano Biagetti


Worum geht's?: Eine schnittige Jacht, drei schöne Damen, klares Wasser, ein gewitzter Fotograf und heller Sonnenschein.
Fabrizio (Umberto Orsini) sucht einen möglichst pittoresken Hintergrund für die geplanten Aufnahmen von seinem attraktiven Model Margerita (Shoshana Cohen), das zugleich seine Geliebte ist - was seine Frau Anna nicht weiter zu stören scheint.
Während diese sich dem Sonnenbaden widmet und Fabrizio mit Margerita an Land geht, hängt Fabrizios intellektuelle Schwester Valeria (Haydée Politoff) gelangweilt ihren misanthropen Gedanken nach.
Niemand scheint der Radiomeldung von einem flüchtigen Schwerverbrecher Aufmerksamkeit zu schenken, lediglich ein defekter Vergaser zwingt Fabrizio dazu, seine Gefährtinnen kurz zurückzulassen, um in Gesellschaft einer anderen Schönen Rat und Hilfe zu suchen.
Auf sich allein gestellt treffen die drei Grazien an Land auf den sonderlichen Streuner Marco (Corrado Pani), der es nur zu schnell schafft, jede der Damen um den Finger zu wickeln - und dies in unmittelbarer Nähe eines toten Polizisten.
Ist Marco der gesuchte Killer, nachdem auch die kurz auftauchende Wasserpolizei sucht? Warum scheint Valeria vom Anblick einer dahinverwesenden Leiche kaum beeindruckt zu sein? Ist Margerita nur auf Fabrizios Geld aus? Wird Fabrizio je zurückkommen? Und was zur Hölle ist ein Interrabang?!

Wie fand ich's?: Nun, zumindest letzte Frage lässt sich hier direkt spoilerfrei auflösen. Ein Interrobang (wieso der Film den Ausdruck mit a statt o schreibt - weiß der Teufel‽) ist ein obskures Sondersatzzeichen, welches 1962 von einem amerikanischen Werbetexter erfunden wurde und einem Satz sowohl unterstreichenden, wie fragenden Charakter geben sollte.
Hierzu erschuf Martin K. Spekter eine Verbindung aus Frage- und Ausrufezeichen; geboren war das Interrobang. Dieses ‽ war also quasi der Vorgänger des heute so oft im Internet verwendeten WTF-Kürzels (entstanden in einer Zeit, in der noch Stil und Kreativität über reine sprachliche Profanität regierten).
Tatsächlich trägt im Film nicht nur die hübsche Haydée Politoff dieses Kunstzeichen als Goldschmuck um den Hals, es gibt auch genau das Gefühl wieder, das man in den Augen der meisten Rezipienten nach dem Ansehen dieses Filmes erahnen kann.
Giuliano Biagetti gelingt nämlich hier das Bravourstück, einen Film mit einer unglaublich relaxten und entschleunigten Atmosphäre zu entwerfen, dessen Figuren offenbar recht eindeutig gestrickt sind - bis, ja, bis der Film anfängt mit zunehmender Laufzeit zunächst subtil, später eindeutig, einen Plottwist nach dem anderen aufs Parkett zu legen.
Wird man also zunächst durch das sonnendurchflutete Ambiente und die klischeehaften Protagonisten wunderbar eingelullt (ja, man könnte schon fast von gediegener Langeweile sprechen), so verschlägt einem spätestens die oben erwähnte Szene eines plötzlichen Leichenfundes die Sprache (oder reißt einen aus dem bereits eingetretenen Dämmerzustand zwischen Wachen und Träumen).
Wer also glaubt Interrabang würde am Ende seiner (angenehmen, 93-minütigen) Laufzeit alle Fragen befriedigend beantwortet haben, der schaue sich das formschöne Satzzeichen noch einmal genau an.
Regisseur Giuliano Biagetti (* 1925; †1998) hat es laut IMDb in einer mehr als vierzigjährigen Karriere auf nur vierzehn Filme gebracht, ein Großteil davon waren seichte Erotikkomödien, für die er sich wohl teilweise so sehr schämte, dass er sich hinter dem Pseudonym Pier Giorgio Ferretti versteckte.
Mit Interrabang hat er auf jeden Fall einen für Genrefans sehr interessanten Bastard aus der geschaffen, der irgendwo zwischen galliger Satire und froschfröhlichem Sommerthriller hin und her pendelt, nur, um mit seiner Schlussszene dem Ganzen noch die Krone aufsetzen, auf deren Zacken nur ein Zeichen prangen kann:


Fazit: So luftig, locker ist man noch nie filmisch an der Nase herumgeführt worden. Mehr Strandurlaubsfeeling findet man in kaum einem anderen Genrefilm dieser Ära.


Punktewertung: 7 von 10 Punkten